Lebenslinien
Petra Gorecki hat ihre zweite Chance gut genutzt
Das Leben hat ihr eine zweite Chance geboten. Petra Gorecki hat sie genutzt, ihre zweite Chance, bei der der Zufall Pate stand. Ja, auch das gehört dazu: das gewisse Quäntchen Glück. Bei Petra Gorecki hatte die glückliche Fügung vor nunmehr bald 15 Jahren zwei Namen: die AWO Heide und deren Vorsitzender Karsten Wessels.
Kindheit und Jugend der heute 39-Jährigen waren elternbedingt schwierig. Mit dem Hauptschulabschluss aus der Förderschule entlassen, musste sie in Jugendjahren eine Maler- und Lackiererausbildung gesundheitsbedingt abbrechen. Was danach kam, gleicht den Lebensläufen von vielen Jugendlichen ohne Halt und Perspektive, nämlich das Abrutschen in die Mut- und Wohnungslosigkeit. „Ich habe bei Freunden, Bekannten und Familie geschlafen“, sagt Petra Gorecki, „daher weiß ich ganz genau, wie es sich anfühlt, kein Geld und kein Zuhause zu haben. Insofern kann ich mich gut in Menschen einfühlen, die Schutz und Hilfe bei uns suchen.“ Uns – das ist die Heider Arbeiterwohlfahrt.
Doch der Reihe nach. Gesundheitlich angeschlagen kam Petra Gorecki vor gut zehn Jahren nach Heide und suchte das Jobcenter der Arbeitsagentur auf. Fragte dort nach, welche beruflichen Perspektiven es für sie geben könnte? Ihr Ziel: endlich eine Existenz aufbauen! Als schnelle, nahe liegende Möglichkeit bot sich ein 1,50-Euro-Job an. Bei der Tafel der AWO gab Petra Gorecki Lebensmittel aus und führte dort auch die Kasse. „Bis dahin kannte ich die Tafel nicht“, sagt sie in der Rückblende. Zwei Jahre erhielt sie Harz IV und verdiente sich durch den AWO-Job ein Handgeld dazu. „Es gab keinen großen Unterschied zwischen mir und den Frauen und Männern, die nach Lebensmitteln bei uns anstanden.“
Der Kontakt zu den Ehrenamtlern und den angestellten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Heider Ortsverbandes blieb nicht aus. Rückblickend sagt Karsten Wessels: „Ich habe relativ schnell gemerkt, dass in dem Mädel mehr stecken könnte. Sie engagierte sich, zeigte sich als lern- und anpassungsfähig, war zuverlässig und korrekt“. Er bot ihr ein Praktikum im Büro der AWO an. „Auch das hat sehr gut geklappt“, so Karsten Wessels. Um es kurz zu machen, aus dem Praktikum wurde eine Festanstellung für 30 Stunden in der Woche zu den tariflichen Konditionen.
Heute ist Petra Gorecki eine feste Größe in der Verwaltung der Heider AWO. „Wow“, habe sie bei der ersten Gehaltszahlung gedacht, erinnert sie sich, „endlich selbst verdientes Geld für mich ganz alleine!“ Zu ihren regelmäßigen Aufgaben gehört unter anderem die Ausgabe der Berechtigungskarten für Tafelkunden, die Unterstützung von vorübergehend Wohnungslosen, die ihre Postadresse bei der AWO haben, die Organisation der alljährlichen Weihnachtspäckchen-Aktion, aber natürlich auch andere Verwaltungstätigkeiten und Schriftwechsel. „Viele Funktionen des Computers habe ich mir selbst beigebrecht“, sagt Petra Gorecki. Mit Recht darf sie darauf stolz sein, in die Wiege gelegt wurde es ihr nicht. „Niemals, wirklich niemals hätte ich gedacht, dass ich mal im Büro arbeite, und das gerne“, sagt Petra Gorecki. Zeitlebens hatte sie mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche zu kämpfen. „Dem musste ich mich stellen“, sagt die 39-Jährige. Doch auch diese Hürde ging sie diszipliniert an, denn sie hatte ein Ziel: Raus aus der Perspektiv- und Mutlosigkeit.
Studienpraktikum bei der AWO
Projektanträge auf den Weg bringen, Schriftwechsel führen, Fördermöglichkeiten erkunden oder auch neue tarifvertragliche Regelungen umsetzen: das Spektrum der Tätigkeiten, die Lisann Lettau im Rahmen ihres knapp sechsmonatigen Studienpraktikums bei der AWO übernommen hatte, war damit längst nicht erschöpft. An drei Tagen in der Woche je sechs Stunden war die 28-Jährige als Assistentin der Geschäftsführung tätig. Im Januar 2023 endete ihr Praktikum.
Lisann Lettau studiert aktuell im Frühjahr/Sommer 2023 im 9. Semester Wirtschaftsrecht an der Fachhochschule in Heide – und gehört in ihrem Jahrgang zu den Wenigen, die dort ihr Studium in Teilzeit absolvieren. „Ich habe einen 8-Jährigen Sohn, für den ich die Verantwortung trage und der mich natürlich noch braucht“, berichtet Lisann bei ihrer Verabschiedung im Januar 2023 durch Karsten Wessels.
Mit Unterstützung der Eltern und dank der Option, in Teilzeit zu studieren, hat sie es bisher gut geschafft, Studium und Erziehungstätigkeit bzw. das vorgeschriebene Praxissemester unter einen Hut zu bringen. „Mein Leben ist durch meine frühe Schwangerschaft anders verlaufen, als ich es mir als Abiturientin vorgestellt habe. Doch heute ist alles gut und mein Sohn ist mein großes Glück“, sagt Lisann. Anderen Frauen in ähnlichen Lebenssituationen möchte sie Mut machen, ihren Berufswunsch nicht aufzustecken.
Sicherlich ist Lisanns Weg zum „Bachelor of Laws (LL.B)“ beschwerlicher als der ihrer Mitstudierenden, die sich voll und ganz auf ihr Studium konzentrieren können. Doch das spornt sie eher an.
„Mehr Teilzeitmöglichkeiten eröffnen“
„Ich finde es enorm wichtig, dass Frauen und Männern die Möglichkeit eröffnet wird, in Teilzeit zu arbeiten oder eben zu studieren“, sagt AWO-Geschäftsführer Karsten Wessels. Bereits während seiner aktiven Zeit als Gewerkschaftsfunktionär hat er sich für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie stark gemacht. Wenngleich sich zwischenzeitlich vieles verbessert habe, gebe es gesellschaftspolitisch mindestens noch genau so viel zu tun, meint Karsten Wessels. Um beim Beispiel Lisann zu bleiben: Sie konnte beispielsweise kein BWL-Studium in Heide beginnen, für diesen Studiengang gibt es die Teilzeitmöglichkeit bisher noch nicht.
Sie profitiere sehr von der Zeit bei der AWO, meint Lisann rückblickend: „Beispielsweise habe ich gelernt, die Vorschriften des SGB II und die Lebenssituationen von Menschen miteinander zu verknüpfen. Ich verstehe die Zusammenhänge jetzt sehr viel besser.“ Im zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) sind u. a. Grundsicherung für Arbeitssuchende und Leistungen zur Eingliederung in Arbeit geregelt. Mit der AWO hatte Lisann bis zu ihrem Praktikum hauptsächlich die Tafel assoziiert. „Tatsächlich ist die Tafel ein wesentlicher Punkt, aber bei weitem nicht der einzige. Es ist schon enorm, was hier in der Neuen Anlage alles über den Schreibtisch geht.“
Auf der Zielgeraden
Ein Jahr Pause zwischen Abitur und Studium, um praktische Erfahrungen zu sammeln, das hatte sich Wienke Ludwig aus Westerborstel vorgenommen. Bereut hat sie es nicht. Nun neigt sich ihr einjähriger Bundesfreiwilligendienst bei der AWO langsam aber sicher dem Ende zu.
„Mich interessieren Menschen“, sagt Wienke. Daher sei ihr Schritt zum Bundesfreiwilligendienst bei der AWO in Heide nur ein kleiner gewesen. Im Internet hatte sie die Ausschreibung für die Stelle gefunden, kurz entschlossen eine E-Mail geschrieben und mit Geschäftsführer Karsten Wessels einen Gesprächstermin vereinbart. „Eine Stunde haben wir gesprochen, dann war der Fall klar“, sagt Karsten Wessels. „Und der erste Eindruck hat mich nicht getäuscht, Wienke passt prima zu uns.“ Dass sich Wienkes Zeit bei der AWO bald zu Ende geht, sei bedauerlich, aber leider nicht zu verhindern. Ein Jahr dauert der Bundesfreiwilligendienst, nicht länger aber auch nicht kürzer – es sei denn, es kommt zum Abbruch. Aber das war nie eine Option für Wienke, die sich rasend schnell ins AWO-Team eingefunden hat und längst selbständig ihr Aufgabengebiet managt bzw. die ehrenamtlich tätigen Mitglieder unterstützt – wie beispielsweise bei Tafel, Kindertafel oder Ferienfreizeit.
Bufdi – so wird umgangssprachlich der junge Mensch genannt, der einen Bundesfreiwilligendienst leistet. Im Lebenslauf macht sich solch ein Auszeitjahr (klassischerweise zwischen Schule und Studium bzw. Berufsausbildung) ausnehmend gut, zeigt es doch: Hier handelt es sich in der Regel um jemanden mit hoher sozialer Kompetenz. Um beim Beispiel Wienke zu bleiben: Für sie hat sich bestätigt, dass sie mit Menschen bzw. für Menschen arbeiten möchte. Für die 19-Jährige die zusätzliche Bestätigung, dass sie mit ihrem Studienwunsch Medizin richtig liegt. Berührungsängste darf sie nicht als Ärztin haben – und auch nicht bei der Arbeit bei der AWO. „Mir gefallen die Vielfalt der Menschen und deren unterschiedlichen sozialen Hintergründe, mit denen wir zu tun haben“, sagt Wienke.
Empathie ist unerlässlich
Ohne Empathie geht es nicht: Sich immer wieder auf die Menschen einzustellen, die Hilfe, Unterstützung oder Beratung benötigen, zählt unbedingt zu den persönlichen Fähigkeiten, den sogenannten „soft skills“, die alle hauptamtlich Beschäftigten (und auch alle ehrenamtlich Tätigen) bei der AWO mitbringen sollten. „Ich habe das Glück, privilegiert zu leben. Das weiß ich heute noch viel mehr als früher zu schätzen“, so Wienke. Schade findet es sie, dass in ihrer Generation wenig bekannt ist, was die AWO in Heide alles leistet und welch‘ große Rolle im sozialen Gefüge ihr zukommt. Nun trommelt sie in ihrem Bekanntenkreis, damit sich das mehr herumspricht. Und sich vielleicht auch dadurch schnell eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger für sie findet.
Anmerkung
Wienke verdient bei der AWO ein Taschengeld und kommt zusammen mit der Verpflegungspauschale auf monatlich 380 EUR Entgelt. Sie arbeitet in der Regel montags bei freitags von 8 bis 14 Uhr.
"Viel Glück, Mia!"
Ein Jahr Bundesfreiwilligendienst lag im Juni 2022 hinter Mia Schnoor. Für die junge Frau ein Jahr voller Erfahrungen – ein Jahr, das ihre Berufsentscheidung ganz wesentlich beeinflusst hat. „Vorher war mir nicht klar, dass ich mit Menschen arbeiten möchte“, sagt Mia.
Mia hat ihren Bundesfreiwilligendienst bei der AWO in Heide absolviert. In dieser Zeit konnte und durfte sie in ziemlich alle Bereiche und Arbeiten reinschnuppern, die die Arbeit des Heider Ortsvereins ausmachen. Mehr noch: Mia durfte und konnte mitgestalten. Egal, ob es um Schreibtischarbeiten wie das Entwerfen von Flyern ging, um die Unterstützung und Hilfe bei der Tafel, der Kindertafel oder des Ferienlagers für Kinder und Jugendliche in Büsum. Doch jetzt muss sie ihren weiteren Weg beschreiten“, sagt AWO-Vorstand Karsten Wessels. Das gesamte Heider AWO-Team wünscht: „Viel Glück, Mia!“
Übrigens: Für ihren weiteren Berufsweg hat Mia sich für ein Studium der Sozialen Arbeit entschieden.
Was ist der Bundesfreiwilligendienst?
Der Bundesfreiwilligendienst ist ein Angebot an Frauen und Männer jedes Alters, sich außerhalb von Beruf und Schule für das Allgemeinwohl zu engagieren. Oftmals erweist sich das freiwillige Engagement als großer persönlicher Gewinn: Junge Menschen sammeln praktische Erfahrungen und Kenntnisse und erhalten erste Einblicke in die Berufswelt. Ältere Menschen geben ihre reichhaltige Lebenserfahrung an andere weiter, können über ihr freiwilliges Engagement auch nach dem Berufsleben weiter mitten im Geschehen bleiben – oder nach einer Familienphase wieder Anschluss finden. Auch die Einsatzstellen profitieren von engagierter Unterstützung durch Freiwillige: Sie bringen frischen Wind und Anstöße von außen. Entlohnt wird der Bundesfreiwilligendienst mit einem Taschengeld von bis zu 423 Euro. Rentenversicherungs- und Krankenkassenbeiträge werden vom Träger entrichtet.
Der Bundesfreiwilligendienst bei der AWO in Heide
Der Ortsverband der AWO in Heide bietet jährlich eine Stelle im Bundesfreiwilligendienst an. Für 2022/2023 ist diese Stelle bereits besetzt. Bewerbungen für 2023/24 gerne an: wessels@awo-heide.de oder auf dem Postweg:
AWO Ortsverein Heide
z.Hd. Karsten Wessels
Neue Anlage 1
25746 Heide
